Ostsee – Baltikum – Teil 1
Tere Estland – Hallo Estland
Wenn Estland eine Cousine wäre, dann wären viele gerne mit ihr verwandt – auch nur über zehn Ecken. In ihrer Nachbarschaft geht die Verwandtschaft gegen Null und auch sprachlich steht sie für sich allein. Stört sie nicht, hat sie doch ganz andere Katastrophen und Probleme überstanden und gemeistert – und davon gab es viele über die Jahrhunderte. Nach jedem Stolpern hieß es für sie: Aufstehen, Krone richten und weiter gehen. Blieb sich immer treu, machte ihr eigenes Ding. Das insellose Lettland wäre gerne mit ihr verwandt und zettelte einen Erbstreit um die Insel Ruhnu an. Sie meinten, bei über 2.200 Inseln könnte Estland mal eine abgeben. Fehlanzeige! Erfahren Sie mehr über Estland von einer Neu-Verwandten – quasi von Cousine zu Cousine. Text und Fotos: Sabine Griem
Nach einer kurzen Nacht geht es vor Tau und Tag zum Flughafen. An Bord der kleinen Maschine sind ein Modelteam und ein Mann der aussieht, wie der Bösewicht Blofeld aus dem James Bond Film „Man lebt nur zweimal”.
Insel Saaremaa
Am Flughafen in Kuressaare auf der Insel Saareema erwartet mich Kristina. Sie trägt einen Oversize-Mantel mit riesigem Blumenmuster von der Designerin Triinu Traumann von der Insel Muhu. Die Mode ist sehr angesagt – und das nicht nur in Estland. Auf dem Weg zum Frühstück im Georg Ots Spa Hotel an der Marina sehe ich die erste alte Windmühle. Kuressaare hieß einst Arensburg und direkt am Meer steht die mittelalterliche Bischofsburg. Sie wurde komplett restauriert und hat drinnen ein tolles Museum mit interaktiven Elementen. Wir begutachten eine Frau, die aus mittelalterlichen Grabfunden rekonstruiert und kostümiert wurde. Neben ihrem Schaukasten steht ein Automat, mit dem man einen biometrischen Fotoabgleich zur Abstammung herstellen kann. Kristina ist genervt: Als echte Saaremaa gibt es immer nur 3,15 Prozent Übereinstimmung für sie. Bei mir dann die Überraschung: 59,5 Prozent! Puh – als so eng und neu verwandte Cousine muss ich im Musesumsshop erstmal einen Beruhigungseinkauf einlegen. Weiter erzählt die 100-Prozent-Saaremaa der Neu-Saaremaa, dass das Dorf früher um die Burg herum landeinwärts gebaut wurde und stetig wuchs. So liegt der Ortskern heute viel weiter entfernt, als einst.
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Vor etwa 200 Jahren wurde das Städtchen zum Kurort nachdem heilende Erde entdeckt wurde. Es entstanden villenartige Häuser und ein Kurhotel samt Park. Heute gibt es sechs Kurhotels für Anwendungen – die Gäste kommen aus aller Welt. Zum Mittag geht es ins Resto Hafen am Hafen. Im rustikal maritimen Ambiente wird Fisch der Extraklasse serviert. Lecker und sehr zu empfehlen.
Als wir nachmittags den zweitältesten Leuchtturm Estlands in Sörve erreichen, weht es an der äußersten Südspitze Saaremaas in alle Knopflöcher. Wir schauen uns den weiß-schwarzen Leuchtturm vom kleinen Museum aus an. Dort gibt es viel Wissenswertes zum Thema Leuchtfeuer Schiffsuntergänge, kleine und große Seeschlachten und die russische Besatzungszeit. Ja, die Besatzung bis 1991/94 ist auch so ein Thema. Die ganze estländische Küste und insbesondere Saaremaa waren sowjetisches Sperrgebiet und die „Andenken” sind teilweise noch erhalten: Wachtürme! Die meisten wurden abgetragen und die verbliebenen dienen heute Wassersportlern als Markierungs- und Ansteuerungspunkte.
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Zurück zu den Wurzeln
Es geht weiter in Sachen Historie. Die Nacht werde ich in Pilguse Manor verbringen – einem Gutshofkomplex, der auf das Jahr 1558 zurückgeht und über Jahrhunderte der Lübecker Patrizierfamilie Billingshusen gehörte.
In der Lounge lerne ich Besitzerin Maria Tamander kennen. Die Schwedin mit estnischen Wurzeln lebt mit Mann und Töchtern eigentlich in London, wo sie in Paddington den Pub „The Cleveland Arms” betreibt. Die hübsche Frau mit den typischen hohen Wangenknochen ist ein echter Tausendsassa. Der Lebenslauf abenteuerlich und gespickt mit Zufällen, wie sie sagt. In Stockholm aufgewachsen ging sie nach London, wo sie ihren Mann John Mathieson kennenlernte – einen international bekannten Kameramann, der mit vielen namhaften Regisseuren zusammengearbeitet hat. Wie ist sie nach Estland gekommen? Ihre Großeltern flohen mit den Töchtern im Oktober 1944 in letzter Sekunde vor der russischen Invasion von ihrem Anwesen Hylgeranna auf die Insel Gotland. Ihre damals achtjährige Mutter erinnerte nur wenig von Saaremaa, aber nach dem Fall des eisernen Vorhangs erhielten sie und ihre Schwester das Areal zurück – ein Pastor hatte die Dokumente gerettet. Vom ehemaligen Bauernhaus gab es nur noch die Grundsteine, aber dafür gab es einen Wachturm. Mutter und Tante dachten über den Verkauf des Grundstücks nach. Und in eben diesem Sommer reiste Maria mit ihrer Familie nach Hylgeranna. Es war Liebe auf den ersten Blick und sie blieb.
Pilguse Manor – eine Klasse für sich
Klar, dass es die umtriebige Maria weiter in den Fingern juckte. Auf der Suche nach einer weiteren Immobilie, traf sie bei einem Spaziergang einen netten Herrn, der ihr das 90 Hektar große Pilguse Manor vermittelte. Maria schlug ein und startete 2020 im Corona-Lockdown voll durch. Ihren Hotel-Direktor lernte sie auf einer Party kennen. Mark, der eigentlich aus den USA kommt und ebenfalls schon lange in Estland lebt, kommentiert das lachend: Da geht man auf eine Party und am nächsten Tag ist man Hotel-Manager. Koch Albert aus den Niederlanden ist auch von Anfang an dabei. Er kocht, bäckt und zaubert unglaublich Delikates.
Das Gutshaus muss noch warten, aber in den restlichen Gebäuden entstand an der Westküste von Saaremaa ein Ressort, wo gekonnt alt auf modern trifft. In der großen Halle lümmele ich gemütlich auf einem Rattansofa von Sitka Design – die dänischen Lounge-Möbel wiederholen sich in allen Zimmern – und genieße bei einer Tasse Tee den wärmenden Kaminofen. Jedes Zimmer hat übrigens einen Holzofen – statt Fernseher!
In Pilguse gibt es 25 Hotel-Zimmer, zwei Glashäuser (außen verspiegelt) mit Toilette und Dusche, zwei Glamping-Häuser mit To-Häuschen (Chemie-Toilette) und einen super-charmanten Holzwohnwagen im Tinker-Stil – ebenfalls mit To-Häuschen und Waschbecken.
Die Nacht werde ich alleine in Pilguse verbringen – nur mit Katze Elda. Sie ist zugelaufen und wurde spontan adoptiert Vor einigen Sommern kamen Gäste aus der Nachbarschaft zum Essen und riefen: Huch, da ist ja unsere Katze! So gibt es nun ein Sommer-Winter-Abkommen: Den warmen Teil des Jahres verlebt Elda auf Pilguse, den kalten bei ihren richtigen Eltern. Mutterseelenallein auf 90 Hektar überlege ich im Bett, ob mir das Angst macht. Keine Ahnung, was soll da schon kommen? Der Regen trommelt aufs Dach, die Heizung knackt, gerade habe ich einen Elch gehört. Darüber schlafe ich ein. Am Morgen ist nur Elda genervt. Pitschenass mustert sie mich vorwurfsvoll: Eine Nacht im Regen! Eine Zumutung, geht gar nicht!
Insgesamt können 62 Gäste in Pilguse Manor übernachten. Es ist beliebt für Hochzeiten und Feste. Schwimmteich, Rauchsauna, Kanufahren, Reiten oder einfach nur relaxen. Hunde und sogar Katzen sind willkommen. Ausdrückliche Empfehlung und mehr.pilguse.com
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